„Zeitenwende in der Streikkultur“

Leverkusen, den 10. Juli 2024

Die jüngsten Tarifkonflikte bei der Bahn, im öffentlichen Nahverkehr, an Unikliniken und dem Luftverkehr haben bedauerlicherweise ganz neue Eskalationsstufen erreicht. Immer wieder musste man den Einigungswillen infrage stellen und vor allem bei der Bahngewerkschaft fragte man sich, ob diese die enorme Dynamik, die die Tarifrunde letztendlich entwickelte, überhaupt noch steuern konnte oder überhaupt wollte. Diese „Streiklust“ speist sich natürlich aus einer Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Denn inzwischen sind nicht nur Fachkräfte, sondern letztendlich Arbeitskräfte in allen Bereichen knapp. Die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer ist damit erheblich gestiegen und die Gewerkschaften demonstrieren hieraus eine ganz neue Stärke. Bedauerlicherweise zeigen die Streikaktionen aber auch, dass die Gewerkschaften das scharfe Schwert des Streikes immer mehr nach Belieben einsetzen. Manchmal reicht allein schon die Androhung eines Warnstreikes für das Zustandekommen eines Tarifabschlusses aus, weil für die Unternehmen eben nicht nur Lohnprozente, sondern darüber hinaus auch Lieferfristen, Auftragserfüllung und Geschäftsbeziehungen auf dem Spiel stehen und sie deshalb jederzeit erpressbar sind. Wer aber apodiktisch allein für sich die Deutungshoheit für die Richtigkeit aller makro- und mikroökonomischen Zusammenhänge in Anspruch nimmt und Verhandlungen verweigert, der gefährdet letztlich nicht nur die Akzeptanz und Rechtmäßigkeit des Streikrechtes, sondern schadet auch dem Image des Wirtschaftsstandorts Deutschland. Die Befürchtung der Arbeitgeber ist, dass die Gewerkschaften in der Fläche auch künftig vermehrt ihre Forderungen durch selbstbindende Beschlüsse nach Belieben „scharfschalten“ werden.

Im Ergebnis sind die Unternehmen damit in jeder Verhandlung der Gefahr ausgesetzt, dass der Beliebigkeit des Tarifergebnisses Tür und Tor geöffnet ist, weil sie eben nicht darauf setzen können, dass sich die Gewerkschaften in Tarifrunden dann letztendlich doch für die Rettung der ökonomischen Vernunft entscheiden werden. Damit überfordert man aber nicht nur die Arbeitgeber in der vorausschauenden Berechen- bzw. Planbarkeit, sondern auch die Gerichte, denn diese wollen eben nicht bei der Bestimmung der notwendigen Parameter zur Verhältnismäßigkeit der Arbeitskampfmittel den „Ersatzgesetzgeber“ spielen. So räumen die Gerichte bekanntlich sowohl beim „Ob“ als auch beim „Wie“ des eingesetzten Kampfmittels den Gewerkschaften eine Einschätzungsprärogative ein.

Es kann deshalb auch nicht überraschen, dass die Rechtsprechung dem Streikrecht schon seit Jahren keine Grenzen mehr setzt. Insgesamt hat das Arbeitskampfrecht das Kräftegleichgewicht sogar noch einmal deutlich zulasten der Arbeitgeber verschoben. Beispiele: Erstreikbarkeit von Tarifsozialplänen, Zulässigkeit von Unterstützungsarbeitskämpfen, Flashmob-Aktionen. Dem haben die Arbeitgeber nichts entgegenzusetzen. Der einstweilige Rechtsschutz kann schon deshalb nicht zu der gewünschten Rechtssicherheit führen, weil die Anforderungen an die Rechtmäßigkeit einer Kampfmaßnahme von den Gerichten nicht einheitlich bestimmt werden: So lassen manche Gerichte für eine Untersagung im Rahmen eines einstweiligen Verfügungsverfahrens einfache Rechtswidrigkeit ausreichen, während andere fordern, dass ein Streik offensichtlich rechtswidrig sein muss, um so den Besonderheiten des Eilverfahren – wie der summarischen Prüfung und der damit verbundenen geringeren Richtigkeitsgewähr – gerecht zu werden. Und auch das Bundesarbeitsgericht kann nicht für Rechtssicherheit sorgen, da es an einer instanziellen Zuständigkeit bei Arbeitskampfstreitigkeiten im einstweiligen Rechtsschutzverfahren fehlt. Die Überprüfung der Rechtmäßigkeit eines Arbeitskampfes in einem Hauptsacheverfahren scheitert schließlich an getroffenen sog. Maßregelungsklauseln (welche letztlich eine gerichtliche Überprüfung der Arbeitskampfmaßnahmen ausschließen) bei Tarifabschlüssen.

Das Grundrecht der Koalitionsfreiheit bedarf nach alle dem zwingend einer Kodifizierung durch den Gesetzgeber. Und weil bei Streikmaßnahmen in kritischen Infrastrukturen sehr schnell wegen der Drittbetroffenheit erhebliche gesamtwirtschaftliche Schäden entstehen, die das Institut der deutschen Wirtschaft zuletzt bei einem Streik von 6 Tagen auf bis zu einer Milliarde Euro bezifferte, sollten mindestens aber Regelungen getroffen werden, die vor Streikmaßnahmen die Durchführung eines Schlichtungsverfahrens vorschreiben.

Mit Blick auf die noch ausstehenden Tarifverhandlungen kann man an die Gewerkschaften nur appellieren, nicht ausschließlich den Druck vor die Verhandlungen zu setzen. Immer nur „rote Linien“ zu definieren, zu bevormunden und sofort mit Warnstreiks zu drohen oder zu agieren, ist nicht die Streit- und Streikkultur, die sich die Unternehmen vorstellen, geschweige denn tolerieren können und wollen. Die Gewerkschaften dürfen bei den herausfordernden umfänglichen Transformationsprozessen und den damit verbundenen hohen Kosten bei einer gleichzeitig bestehenden äußerst schwierigen Wirtschaftslage die Arbeitgeber nicht überfordern und sollten vielmehr den Beweis antreten, dass nur ein auf Konsens aufbauendes Tariffindungssystem den Wirtschaftsstandort Deutschland wieder wettbewerbsfähig machen und Arbeitsplätze sichern kann.

Die aktuelle Lohnforderung der IG-Metall von 7 % jedenfalls ist eine Forderung gegen die Wettbewerbsfähigkeit des Produktionsstandortes Deutschland und wird weitere Unternehmen vor dringend notwendigen Investitionen in die Transformationsprozesse abschrecken. Da schürt die IG-Metall bei ihren Mitgliedern eine Erwartungshaltung, die sich nicht ansatzweise bei der derzeitigen äußerst schwierigen wirtschaftlichen Lage realisieren lässt. Die Forderung ist auch deshalb nicht nachvollziehbar, weil die IG-Metall noch bis vor kurzem in gemeinsamen Aufrufen mit den Arbeitgebern an die Politik davor warnte, dass der Standort Deutschland mit seinen hohen Kostenstrukturen nicht wettbewerbsfähig ist. Offensichtlich will die IG-Metall bei den Kostenstrukturen die Arbeitskosten, deren Entwicklung die Tarifpartner ja ganz maßgeblich mit beeinflussen können, nun völlig ausblenden.  Unsere Unternehmen erwarten aber, dass die IG-Metall ihre Mitglieder über den tatsächlichen Ernst der Lage aufklärt und ihren Beitrag zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, der Innovationsfähigkeit und der Investitionsrahmenbedingungen und damit zur Stärkung des Standortes leistet.

Leverkusener Anzeiger vom 10.07.24:

Leverkusen: Arbeitgeberchef will erst schlichten, dann streiken | Kölner Stadt-Anzeiger (ksta.de)